NSU-Morde:Lehren für die Gegenwart

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Erinnerungskultur darf sich nicht allein mit der Vergangenheit beschäftigen: Die Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte informiert deshalb über den Umgang mit den rechtsextremen NSU-Morden.

Von Gregor Schiegl

Yavuz Narin vertritt die Hinterbliebenen des 2005 ermordeten Theodoros Boulgarides als Nebenkläger gegen Beate Zschäpe. (Foto: Toni Heigl)

Die erste Frage der Polizeibeamten an das Mädchen war, ob ihr Vater sie sexuell missbraucht habe. Die zweite Frage war, ob ihr Vater in Drogenhandel verstrickt sei. Oder ob er etwas mit Prostitution zu tun habe. Irgendwann wurde es ihr zu viel. Sie schrie: "Ich sage kein Wort mehr, bevor ich nicht weiß, was los ist." Erst nach den Befragungen erfuhr das Mädchen, dass man ihren Vater, den 41-jährigen Griechen Theodoros Boulgarides, ermordet hatte. Drei Schüsse direkt ins Gesicht. Der Mord im Münchner Westend glich einer Hinrichtung. In den Zeitungen war von einer Mordserie die Rede, "die ins Drogenmilieu verweisen könnte". Die Polizei machte viel Druck. Zuletzt drängte sie die Witwe, sie solle doch endlich gestehen, ihren getrennt lebenden Mann selber erschossen zu haben. "Die Opfer wurden durch den Dreck gezogen, auf jede erdenkliche Weise", sagt Rechtsanwalt Yavuz Narin. Heute weiß man: Theodoros Boulgarides war eins der zehn mutmaßlichen Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).

Dass die evangelische Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte Dachau Yavuz Narin und Robert Andreasch vom antifaschistischen Aida-Archiv München eingeladen hat, liegt an ihrem Selbstverständnis. Aufgabe der Versöhnungskirche sind Erinnern und Gedenken, wie Diakon Klaus Schultz sagt. Es gehe aber auch darum, den Blick in die Gegenwart zu richten und die Opfer des Neonazismus nicht in den Hintergrund treten zu lassen. Zwischen Opfern der Nationalsozialisten und denen des NSU sieht Schultz durchaus Parallelen: "Es gab für sie keinen Neuanfang, nur ein Danach." Deshalb wollen er und Pfarrer Björn Mensing, Beauftragter der evangelischen Landeskirche für Gedenkstättenarbeit, auch die Verbrechen der Neonazis anklagen. Mehr als 100 Menschen sind in Deutschland seit 1990 von Rechtsextremisten ermordet worden. Die Blindheit der Strafverfolgungsbehörden auf dem rechten Auge korreliert mit dem Versagen bei der Aufklärung der Morde der Zwickauer Terrorzelle und hat ihren Ursprung in der Verdrängung der NS-Verbrechen. Die Versöhnungskirche will ohne eine unzulässige Gleichsetzung das Versagen von Staat und Gesellschaft thematisieren - damals wie heute.

Grotesk mutet es an, dass die Polizei ihren hartnäckigen Verdacht gegen ausländische Täter in den NSU-Morden damit begründete, dass die Brutalität bei der Mordserie "atypisch für den deutschen Kulturkreis" sei, wie Robert Andreasch von Aida sagte. Ins Visier der Fahnder gerieten daher vor allem die Opfer selbst. Mit Drogenspürhunden nahmen die Beamten am helllichten Tag Schrebergärten auseinander. Sie fanden keine Drogen, natürlich nicht. Trotzdem kratzten die Durchsuchungen am guten Ruf, und was davon noch übrig war, zerstörten die Medien. Sie kolportierten die fragwürdigen Darstellungen der Ermittler und stigmatisierten die Opfer in der Öffentlichkeit. "Die Kinder wurden gemobbt, normale Wege gerieten zum Spießrutenlaufen", berichtete Anwalt Yavuz Narin, der die Angehörigen von Theodoros Boulgarides als Nebenkläger im Mordprozess gegen Beate Zschäpe vertritt. Die Witwe des Opfers verlor wegen der Berichterstattung ihre Arbeit. "Wenn eine Familie in so desolaten Verhältnissen lebt, will ich nicht wissen, wie lange sie schon bei uns klaut", soll ihr Chef gesagt haben.

Dabei gab es Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund der Mordserie zuhauf. "Die Akten sind voll davon", sagt Yavuz Narin. 2006 kam ein Profiler des bayerischen Landeskriminalamts zu dem Schluss, dass die Täter eine Gruppe von Neonazis sein müsse, die vermutlich wegen Waffen- und Sprengstoffbesitzes vorbestraft seien. Die Ermittlungsbehörden hätten früh von den NSU-Morden wissen können. Doch das Profiling war den Beamten "zu unwissenschaftlich". In zwei Fällen habe die Polizei stattdessen - kein Scherz - Geisterbeschwörer zu Rate gezogen, die ihre eigene Theorie bestätigten. Danach sollen alle ausländischen Opfer (ohne davon selbst Kenntnis zu haben) Mitglied einer türkischen Mafia gewesen sein, aber deren strengen Ehrenkodex verletzt haben. Deshalb hätten sie sterben müssen. Theodoros Boulgarides erklärten die Ermittler kurzerhand zum Türken, obwohl das Verhältnis von Griechen und Türken traditionell nicht das allerbeste ist. "Was nicht passt, wurde passend gemacht", sagt der Anwalt.

Wiederholte Hinweise auf zwei mitteleuropäische Männer in Radlerhosen am Tatort hätten die Ermittler beharrlich ignoriert. In der Sendung "Aktenzeichen XY ungelöst" wurde die Szene recht eigentümlich nachgestellt. Statt zweier hellhäutiger Radfahrer seien dunkelhäutige Männer in einem tiefer gelegten schwarzen BMW zu sehen gewesen, erzählt der Anwalt. Von einem "flächendeckenden Rassismus" bei der Polizei wollte er dennoch nicht sprechen. "Das wäre unfair." Robert Andreasch sprach von "institutionellem Rassismus". Rassistische Arbeitshypothesen gehörten zum normalen Vorgehen der Polizei.

Nachdem die NSU-Opfer öffentlich wenigstens rehabilitiert worden sind, geht es ihnen nun vor allem darum, dass die Hintergründe der Tat erhellt werden, wie Narin sagt: Wer waren die Helfer? Wer waren die Helfershelfer? Weder er noch Robert Andreasch glauben an die These, die NSU sei eine nun zerschlagene isolierte Splittergruppe gewesen. "Der Untergrund kann nur mit mehr als 100 Neonazis funktioniert haben", sagt Robert Andreasch. "Das ist ein und dieselbe Szene." Es ließen sich zahlreiche Kontakte etwa mit der bayerischen Neonazi-Szene belegen. Das Zwickauer Trio - Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe - sei regelmäßig bei Neonazi-Aufmärschen zu sehen gewesen. Keineswegs seien sie von ihrer Umwelt völlig isoliert gewesen. Dass der NSU sich in seinen Propagandavideos selbst als "Netzwerk" bezeichnete, müsse man ernst nehmen, sagt Andreasch. "Wir wissen nicht, ob es jetzt schon vorbei ist."

Anscheinend will die Justiz das so genau gar nicht wissen. Wichtige NSU-Kontakte wie zu Marcel Degner, der versucht haben soll, den Terroristen Geld zukommen zu lassen, seien bislang gar nicht vorgeladen worden - vermutlich, weil der ehemalige Thüringer Sektionsleiter des internationalen Neonazi-Netzwerks "Blood and Honour" auch als V-Mann des Verfassungsschutzes fungiert. Narin kündigt einen Beweisantrag an, um das zu ändern. Ob er damit durchkommt, steht auf einem anderen Blatt. "Es gibt das Interesse der Bundesanwaltschaft, den Prozess möglichst klein zu halten." Der Aufklärungswille scheint zu erlahmen. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl lasse es den Zeugen aus dem NSU-Umfeld durchgehen, zu behaupten, sie könnten sich nicht mehr erinnern. "Die Neonazis lachen sich tot über den Prozess."

Robert Andreasch beklagt, dass es bis heute in Baden-Württemberg keinen NSU-Untersuchungsausschuss gibt. Es sei fraglich, ob der bayerische fortgesetzt werde. Auch der Recherche-Eifer der Medien habe nach 2012 stark nachgelassen. Umso wichtiger sei es, dass die Bürger öffentlichen Druck machten.

Wie stark die Vorgänge die Menschen verunsichern, zeigt ein Zwischenfall bei der Veranstaltung. Ein Zuschauer, der mit seiner Handykamera Fotos von den Referenten macht, wird von einem Besucher barsch angegangen, was er da zu fotografieren habe. Erst als Pfarrer Mensing den Mann als ehrenamtlichen Mitarbeiter der Versöhnungskirche vorstellt, beruhigen sich die Gemüter. Am Ende der Veranstaltung sagt ein Besucher zu Anwalt Yavuz Narin, er bewundere ja seinen Einsatz. "Aber ich mache mir Sorgen um sie." Deutschland im Jahr 2014.

© SZ vom 10.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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